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SURFACES I – Corinna Holthusen

Die 1967 in Hamburg geborene Fotografin Corinna Holthusen beschäftigt sich mit dem Thema Konvergenz von Schönheit, Ekel, Künstlichkeit und Natürlichkeit. Wir laden herzlich ein zur Vernissage am 04. November um 15:00 Uhr.

Corinna Holthusen lebt und arbeitet in Hamburg. Nach ihrem Studium der freien Kunst in Florenz und der Fotografie in Mailand, spezialisierte sie sich auf Bildbearbeitung. Heute entstehen ihre Arbeiten analog und digital im Studio und werden von ihr anschließend digitalisiert, manipuliert, ausgedruckt und teilweise mit Acrylfarbe überarbeitet. Corinna Holthusens Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet und international ausgestellt.

Die Gesichter und Körper dieser Ausstellung existierten nie in dieser Form. Sie sind das Ergebnis von perfekt am Computer bearbeiteten Gesichtern und Körpern und deren anschließender Zerstörung und neu Zusammensetzung durch mehrere Physiognomien und schließlich das haptische Aufbrechen durch Materialaufbringung auf der Oberfläche des Fotoprints. Die neuesten, erstmals 2017 in der Hamburger Barlach Halle K gezeigten Arbeiten SURFACES I entstehen durch das Übermalen, der auf Aludibond gezogenen Prints, mit verschiedenen Techniken wie Acrylfarbe, Gel oder Leimmischungen.

O.T., aus der Serie Surfaces I, 2017, Acryl und Pigment auf Fotoprint auf Aludibond, 111 x 143 cm

Der Titel SURFACES I beschreibt dabei die Gesichter und deren Oberfläche – die unglaublich ausdrucksstarke Übermalung. Fotografie heute ist kein Abbild der Wahrheit mehr. Dies wird hier einerseits durch die Materialüberlagerungen deutlich, aber vor allem durch die subtile Form der Bearbeitung am Computer. Wir sehen, aber wir werden doch getäuscht. Wir sehen Schönheit und empfinden doch ganz anders. Diese Werke irritieren unsere gewohnten Sehweisen, die der Schönheit Macht, Glück und Erfolg zuschreiben. Das Versprechen der Schönheit kann aber auch eine Kehrseite haben, die der Betrachtende hier spürt.

Extreme Verehrung psychischer Schönheit hat bereits das antike Griechenland geprägt. Die Homerischen Epen besingen einen jahrelangen Krieg um eine schöne Frau und verleihen auch den kämpfenden Männern gern ästhetischen Glanz. Schon damals gab es Schönheitswettbewerbe und die körperlichen Übungen und Wettkämpfe in den Gymnasien waren zugleich ein permanenter Schönheitswettstreit. Diese scheinbar zeitlose Empfänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung für Schönheit erlebte mit der Erfindung der Fotografie eine wichtige Zäsur. In Verbindung mit modernen Druckverfahren und dem Siegeszug illustrierter Zeitschriften hat die Fotografie erstmals dafür gesorgt, dass Bilder schöner Körper nicht länger nur der Vorstellung angehören, sondern schwarz auf weiß, später auch farbig, für jeden sichtbar wurden.

Heute sind die Bilder schöner Menschen omnipräsent; sie bedürfen nicht mehr der Erzeugung in der Vorstellung, sondern drängen sich dem Konsumenten überall detailliert, voll ausgeleuchtet und technisch perfekt auf. Die alltägliche mediale Konfrontation mit extrem ausgewählten und extrem bearbeiteten Körpern und Gesichtern schraubt die Erwartungen an für attraktiv gehaltene Körper immer höher und vergrößert zusehends die Kluft zwischen wirklichem und „idealem“ Aussehen.

Der eigene Körper und alle damit in Beziehung stehenden Dinge werden heute zur Ersatzreligion. Ästhetik kann das Bedürfnis nach Sinn, Legitimation des Daseins und Perspektiven in sich aufnehmen und bestimmt so das ganze Leben. Immer mehr kosmetische, pharmazeutische, medizinische Hilfsmittel und immer extremere Ziele der Selbstbearbeitung fordern eine neue Mentalität: Selbstoptimierung ist nicht nur Pflicht, sondern soll auch Spaß machen, obwohl die Vorbilder immer unerreichbarer werden. Heute muss sich jeder eine ästhetische Identität suchen und darstellen und diese Aufgabe ist ein stetes Projekt, das nach permanenter Aufmerksamkeit verlangt. Von der schwierigen Auswahl der Kleidung, der Einrichtungsgegenstände und Kosmetika über Fitness- und Diätprogramme, das Styling von Frisur und Haarfarbe, den Möglichkeiten der plastischen Chirurgie bis zur ständigen Veröffentlichung des Ergebnisses in den sozialen Medien. Doch macht diese Fokussierung auf Ästhetik glücklich? Der neue Begriff „Körperbildstörungen“ meint, dass der obsessiv gewordene Kontrollblick in den Spiegel keine realistische Einschätzung des eigenen Aussehens mehr ermöglicht. Der Betrachter nimmt nur noch wirkliche oder vermeintliche Mängel wahr.

Einem historischen Wandel unterliegt der menschliche Schönheitskult auch dadurch, dass er die Aufgaben anderer sozialer Orte und Selektionsmechanismen mit übernommen hat. Persönliche Attraktivität – und dazu gehört die physische – dominiert den gesamten Markt menschlicher Beziehungen. Die Ausstellung „What is love?“, die vor kurzem in der Kunsthalle Bremen zu sehen war, näherte sich diesem Thema über die Dating App Tinder an. Die App steht für das Phänomen der first impressions. Es geht nur noch um Attraktivität, die aufgrund der größeren Anzahl oberflächlicher Bekanntschaften immer wichtiger wird. Nur der erste Eindruck zählt, Hintergrundinformationen, wie Bildung, Familie oder Vorlieben werden nicht mehr ausgetauscht.

Dürer Selbstportrait, aus der Serie Surfaces I, 2017, Acryl und Pigment auf Fotoprint auf Aludibond, 176 x 210 cm

Im Gegensatz dazu hat die Formensprache der Bildenden Künste das Ideal des Schönen spätestens seit der Romantik durch eine Reihe anderer Werte ergänzt. Unschöne Reize versprachen mehr Aufmerksamkeit und entsprechen eher dem Anspruch stets neu zu sein. Corinna Holthusens Werk führt uns in die Welt der Ästhetik und Selbstoptimierung mit all ihren Folgen: einer normativen Konvergenz von Schönheit, kulturellem Anpassungsdruck, Vereinsamung und Ausweglosigkeit. Das sie dabei auch Klassiker der abendländischen Malerei, wie Albrecht Dürers „Selbstporträt im Pelzrock“ oder Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ digital manipuliert und übermalt schließt den Kreis und katapultiert den Betrachtenden zurück in die Zeit vor der Erfindung der Fotografie, als der Betrachter sich noch phantasiereich seine eigene Vorstellung von Schönheit machen konnte. So sehen wir in den Bildern von Corinna Holthusen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des menschlichen Abbilds.

 

 

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